Karl Valentin sagte einmal:
"Erziehung ist eigentlich überflüssig, die Kinder machen uns ja doch alles nach."
Dieses Zitat bringt auf humorvolle Weise eine tiefere Wahrheit zum Ausdruck: Kinder lernen nicht primär durch Regeln oder Belehrungen, sondern durch das, was sie in ihrem Alltag beobachten.
Das Zitat regt dazu an, über die Wirkung des elterlichen Verhaltens auf die Entwicklung von Kindern nachzudenken. Ein Satz, der zunächst überspitzt klingt, aber bei genauerer Betrachtung eine tiefe Wahrheit enthält. Kinder sind nicht nur kleine Menschen, die belehrt werden müssen, sondern hochsensible Beobachter ihres Umfelds. Ihre "Ausbildung" geschieht zu großen Teilen durch das, was sie sehen und erleben, weniger durch das, was man ihnen erklärt oder an Regeln vorgibt. Doch was bedeutet das konkret im Familienalltag?
Wie Kinder durch Beobachtung lernen
Die Psychologie nennt das Phänomen "Modelllernen". Albert Bandura, ein Pionier in der Lernforschung, zeigte in seinen Studien, wie Kinder Verhaltensweisen durch Nachahmung von Erwachsenen übernehmen. Modelllernen ist in der Erziehung zentral, weil Kinder die grundlegenden sozialen, emotionalen und praktischen Verhaltensweisen vor allem durch das Beobachten und Nachahmen lernen. Dieses implizite Lernen prägt sie oft nachhaltiger als explizite Instruktionen. Die berühmte "Bobo-Doll-Studie" demonstrierte, dass Kinder, die aggressives Verhalten von Erwachsenen beobachteten, dieses Verhalten selbst übernahmen – und zwar in erstaunlicher Detailgenauigkeit. Aber es geht nicht nur um extremes Verhalten: Auch alltägliche Gewohnheiten, wie der Umgang mit Emotionen, Kommunikation oder der Umgang mit Herausforderungen, werden von Kindern nahezu ungefiltert übernommen.
Ein Beispiel aus dem Alltag: Wenn Eltern oft ungeduldig oder gereizt reagieren, übernehmen Kinder diese Verhaltensweise häufig, weil sie sie als "normal" wahrnehmen. Umgekehrt lernen Kinder von Eltern, die Konflikte respektvoll und konstruktiv lösen, selbst diese Fertigkeit – und profitieren davon ein Leben lang.
Typische Alltagsbeispiele
Im Alltag gibt es zahlreiche Situationen, in denen das Vorbildverhalten von Eltern unmittelbar sichtbar wird. Hier sind einige Beispiele, die zeigen, wie entscheidend es ist, bewusst mit dem eigenen Verhalten umzugehen:
Herausforderungen für moderne Familien
Heutige Familien stehen vor besonderen Herausforderungen. Hektische Zeitpläne, die ständige Erreichbarkeit durch digitale Medien und der Druck, alles "perfekt" zu machen, erschweren es Eltern oft, das richtige Vorbild zu sein. Wie können Eltern unter diesen Bedingungen bewusst agieren?
Die digitale Versuchung
Eltern stehen oft selbst unter Druck, ständig verfügbar zu sein, sei es beruflich oder sozial. Eine bewusste Strategie, um diesem Druck zu entgehen, könnte darin bestehen, klare Zeiten für die Offline-Phase festzulegen, in denen sich die Eltern ganz auf die Familie konzentrieren. Zudem hilft es, Prioritäten zu setzen und gegebenenfalls auch Aufgaben abzugeben, um Raum für bewusste Erholungsphasen zu schaffen. Kinder nehmen dies wahr und interpretieren digitale Geräte als zentrale Elemente des Alltags. Studien, etwa von der University of Michigan, zeigen, dass exzessive Smartphone - Nutzung von Eltern mit einem erhöhten Risiko für Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern korreliert.
Die Balance zwischen Arbeit und Familie
Viele Eltern jonglieren zwischen beruflichen Anforderungen und Familienleben. Kinder merken jedoch, wenn Eltern mental "abwesend" sind, obwohl sie physisch anwesend sind. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) hat gezeigt, dass qualitativ hochwertige Familienzeit, selbst wenn sie kurz ist, einen entscheidenden Einfluss auf die Bindung und die emotionale Entwicklung von Kindern hat.
Der Perfektionsdruck
Der Wunsch, alles richtigzumachen, ist ein weiterer Stolperstein. Eltern sollten sich bewusst sein, dass Authentizität wichtiger ist als Perfektion. Fehler zuzugeben und daraus zu lernen, ist eine der wertvollsten Lektionen, die Eltern ihren Kindern durch Vorleben geben können.
Authentisch und bewusst leben
Kinder brauchen keine perfekten Eltern – sie brauchen echte Menschen, die bewusst und mitfühlend handeln.
Wenn wir uns immer wieder daran erinnern, dass Kinder uns nachahmen, können wir unseren Alltag reflektierter gestalten. Kleine Veränderungen, wie das bewusste Weglegen des Smartphones während Gesprächen oder das Vorleben gesunder Konfliktbewältigung, können große Wirkung entfalten. Ein Beispiel: Eine Familie beschließt, jeden Abend eine halbe Stunde gemeinsame "Offline-Zeit" zu verbringen, in der alle Geräte ausgeschaltet sind. In dieser Zeit wird bewusst miteinander gesprochen, gespielt oder gelesen. Solche Rituale schaffen nicht nur wertvolle Verbindungen, sondern zeigen Kindern, wie wichtig echte Aufmerksamkeit und präsente Kommunikation sind.
Und auch wenn Karl Valentins Satz provokativ erscheint: Die wahre Kunst der Erziehung liegt oft darin, sich selbst zu erziehen. Wer dies mit einem offenen Herzen, einer Prise Geduld und Humor angeht, legt den Grundstein für ein Leben im Gleichgewicht – für sich selbst und für die Kinder.
Herzensgrüße
Eure Brigitta
Quellangaben für die Studien: